Die Sturmflut am 18. Oktober am Döser Deich in Cuxhaven 1936
von Bertha Kohfahl-Münker
Die ganze Nacht hatte es gestürmt und das Heulen und Brausen des Windes hielt unverändert an. Wie oft
war man aufgestanden und hatte versucht mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Man sah nur, wie
der Sturm die Äste der Bäume peitschte, wie die Bäume sich bogen unter dem rasenden Druck des Orkans,
daß man jeden Augenblick glaubte, daß sie entwurzelt zusammenbrächen.
Da stürzte auch ein Kastanienbaum quer über die Straße ... mit mäch-
tigen Krachen und Bersten, aber was bedeutet das ... der Sturm raste
weiter ... Das Ohr lauschte auf das Donnern der Brandung, horchte ob
Notschüsse die Nacht durchdrängen ... und eine große Stille und ein
inneres Bereitsein wachte auf, was war der Mensch ... was bedeutete
Menschenwerk ...
Nach einem unruhigen Schlaf in der Morgendämmerung, schreckte
man wieder auf, der Sturm tobte noch mit ungebrochener Kraft. Blickte
man durch das Fenster nach dem Deich, dann sah man den Schaum
der heranstürzenden Wogen hochaufspritzen. Wie hoch mußte das
Wasser sein, daß es die ganze Bucht ausfüllte bis fast zur Höhe des Deiches. Das ganze breite Vorland mit
der Steinküste war verschwunden und da der Deich mehrere Meter hoch war, so konnte man die Höhe der
Flut ermessen ... also jetzt schon 4 Meter über normale Höhe ...
Hastig zogen wir uns an und hinaus ging es in den Sturm. Wir kämpften uns durch bis zur Deichkrone. Es
war ein überwältigender Anblick ... der Sturm zerriß die schwarze Wolkenwand und strahlender Sonnen-
schein lag auf dem tobenden Meere. Der weiße Schaum sprühte und leuchtete in der Sonne. Es war ein gi-
gantisches Schauspiel ... wie die Wellen sich brachen, sich überstürzten und mit dumpfen Donnern zerbar-
sten in der Wut der Brandung.
Noch war der Höhepunkt der Flut nicht erreicht und schon leckten die
gierigsten Spritzer an der Deichkrone. Viele Menschen standen sturm-
umweht auf dem Deiche. Der Wind riß die Worte vom Munde ab. Was
sollten auch Worte ... die alten Schiffer sehen mit scharfen, harten
Blikken über das tobende Meer, preßten die Lippen eng und fest
zusammen und wiegten den Kopf hin und her. Sie kannten Not und
Gefahr ... waren in dem Kampf mit dem Meere groß geworden ... aber
solche Höhe der Flut, hatte es seit einem Menschenalter nicht mehr
gegeben.
Ihre verwitterten Gesichter sahen still und ernst aus ... abweisend, ver-
schlossen. Da sprach ein Anderer und man hörte zu und machte sich bereit ...
Wir ließen uns nach Hause treiben von dem Sturme, denn der Alltag brachte Pflichten. Aber man hatte zer-
fahrene Bewegungen, die Hände arbeiteten, doch die Seele war dem Sturme und dem Meere zugekehrt.
Um zwei Uhr zog ich meine beiden Jungens an. Sie sollten mit auf den Deich, mit in den Sturm ... Diesen
Eindruck sollten sie für ihr späteres Leben mitnehmen. Und tief im Inneren stand doch brennend der eine
Satz: "Wenn der Deich nur hält". Aber in Worte wagte es niemand zu formen.
Jetzt mußte bald der höchste Stand der Flut erreicht sein ... eine
Stunde noch. Wir faßten uns an den Händen und wagten erneut den
Gang auf den Deich. Der Sturm packte uns mit aller Kraft, doch wir
stemmten uns dagegen und versuchten den Kindern Schutz zu geben
durch unsern eignen Körper. Mit großen Augen sahen sie in diesen
brodelnden Hexenkessel, der alle ihre Spielplätze verschlungen hatte.
Mit donnernden Getöse stürzten die Brecher herbei, überschlugen sich
und haushoch sprühten die Wassersäulen auf, beim Zerbersten und
Zerschellen an der Deichkrone, uns vollkommen durchnässend. Die
Wucht des Sturmes warf uns vom Deich herunter. Bei der Kugelbake
versuchten wir noch einmal die Deichkrone zu gewinnen. Ein Teil des
Festungsbereiches wurde von den Brechern vollkommen überschlagen. Große Steinplatten waren heraus-
gebrochen durch die Wucht des Wasseranpralles. Das Dach der Lesehalle war vom Sturm abgehoben und
die Balken hinter den Deich geschleudert. Das Wasser fraß Löcher in den Deich. Die Brandung war ein
donnernder Wall von haushochspritzender Gischt. Eine Sturmbö peitschte uns den Deich wieder herunter.
Hagel und Salzwasser drangen uns in Mund und Augen. Wie mit Eimern gegossen, rann uns das Wasser
über Rücken und Brust.
"Wenn der Deich nur hielt", was bedeutete alles andere dagegen ... Um der Kinder willen, wollten wir nach
Hause, völlig durchnäßt, wie wir waren. Wir drehten uns und ließen uns vom Sturme treiben und eilten, vor
einer neuen Hagelbö ein schützendes Dach zu erreichen. Wir strebten der Wandelhalle des Kurparkes zu
um uns unterzustellen.
Wie groß war unser Entsetzen, wie wir sahen, daß das Dach der
großen Wandelhalle zusammenbrach und die Menschen unter sich
begrub, die dort vor der Bö Schutz gesucht hatten. Menschen
riefen um Hilfe ... Vier Verletzte wurden hervorgezogen ... Die
Polizei kam und sperrte ab ...
der Sturm tobte weiter und riß
noch ein, was noch stehen-
geblieben war. Glücklicher-
weise hatte einer der Schutz-
suchenden das Gebäude
wanken sehen, und den Men-
schen zugeschrien hinauszulaufen. Keiner wußte aber in der Verwir-
rung die Anzahl der Menschen, die darunter begraben waren. Man ar-
beitete verzweifelt an den Trümmern, aber die Polizei sperrte ab, es
stürzte noch mehr zusammen.
Wir fingen an zu frieren in unsern durchnäßten Kleidern und hasteten heimwärts. Die Dämmerung kam und
noch tobte der Sturm genauso schaurig weiter, wenn auch die Ebbe langsam einsetzen mußte. Einmal hatte
die Flut den Deich nicht brechen können, aber wie würde es in der Nacht ... Die Deichkappen waren ange-
fressen, Löcher gewühlt, Steinplatten der Uferbefestigung herausgebrochen ...
In der Nähe war der Sohn eines Hofbesitzers ertrunken, der das Vieh hatte retten wollen. Man hörte weiter
unterhalb ... elbaufwärts war der Deich gebrochen ... bei Klint. Die Wohnhäuser mußten geräumt werden ...
eine Frau wurde vor den Augen ihres Mannes von den hereinbrechenden Wellen fortgerissen. Meilenweit
drang das Wasser in das Land ein ... viel fruchtbares Land überschwemmend. Manches Menschenleben war
zu beklagen.
Nun brach von neuem die Nacht herein. Arbeitsdienst, Militär,
technische Nothilfe ... alles war aufgeboten. Oft bis zum Leib im
Wasser stehend, arbeiteten die Menschen, die Deiche zu retten.
Nachts geisterten Lastautos über die Deichkronen, Scheinwerfer
leuchteten gespenstig die gefährdeten Stellen ab. Menschen-
schatten huschten im Dunkel der Nacht unheimlich hin und her und
über allem Menschenwerk das Heulen des Sturmes und das Don-
nern der Brandung ... Erst das Morgengrauen ließ die todmüden.
abgekämpften Menschen zur Ruhe kommen. Langsam flaute der
Sturm ab ... und furchtbar war überall die Zerstörung, die sich dem
fahlen Morgenlichte zeigte.
Lange Ruhe konnte es für die Menschen nicht geben. Die Deiche mußten ausgebessert werden, ehe ein
neuer Sturm kam ... denn sonst: Wehe dem Küstenland. 38 Meter breit war der Deichbruch bei Klint ... dort
mußten sofort alle Arbeitskräfte eingesetzt werden um die Lücke zu schließen. Pfähle wurden eingerammt,
Sandsäcke befestigt und hineingeworfen ... viele, viele Wagen voll. Jeder mußte arbeiten mit Einsatz seiner
ganzen Kräfte. Wer nicht deicht hat sein Recht verloren an dem Land hinter dem Deiche.
Neun Tage später erhob sich erneut ein Sturm und wuchs zum Orkan an und trieb das Wasser in die Elb-
mündung, der Küste zu. Als es Mittagszeit war, ging ich auf den Deich ... Schritt für Schritt mußte man sich
erkämpfen. Es war eineinhalb Uhr und Tiefebbe ... aber das Wasser stand nur wenige Fußbreit unterhalb der
Deichkrone. Meer und Himmel waren eine sturmzerrissene Masse ... wehe den Deichen ... wehe den Schif-
fern. Das mußte schlimmer werden, als der letzte Sturm! Bei Tiefebbe ein Wasserstand wenig unter der
Deichkrone ... das bedeutete Bruch der Deichkappen und schlimmeres.
Dunkel liefen Gerüchte durch die Stadt. Man hatte mit dem Feuerschiff
"Elbe 1" keine Verbindung mehr und befürchtete ein Unglück. Aber die
Besatzung war sturmgewöhnt und das Schiff mit allen neuzeitlichen Er-
rungenschaften ausgerüstet. Vielleicht war nur die Funkanlage zerstört.
Eine sonderbare Stimmung und Unruhe lag über allem. Schon am
Nachmittag sah man die Lastautos mit Faschinen und Sandsäcken
durch die Straßen jagen. Die Menschen sahen so merkwürdig aneinan-
der vorbei ... Der Sturm fegte die Straßen leer. Aber unheimlich lastete
das Gerücht immer schwerer auf den Menschen ... "Das Feuerschiff
"Elbe 1" gibt keine Antwort mehr". Draußen auf dem Meere raste ein
Orkan und kein Schiff konnte auslaufen um nähere Nachricht zu bringen. Selbst Rettungsboot und Schlep-
per konnten bei diesem Sturm nicht in See gehen ...
Das Wasser stieg langsam immer mehr und die Nacht brach herein. Wieder geisterten die Scheinwerfer auf
den Deichen ... Bei Klint war der Deich von Neuem gebrochen. Wie weggefegt waren die Werke von Men-
schenhand, die versucht hatten die Deichlücken zu schließen. Die Wassermassen stürzten von Neuem in
das Land. Die ganze Küste war alarmiert, es drohte ein Unglück in furchtbarer Größe. Die Deiche waren
überall beschädigt und konnten einer stärkeren Sturmflut nicht mehr trotzen. Und immer noch trieb der
Sturm die Wassermassen in das Land ...
Da ... plötzlich brach eine tiefe Stille herein ... wahrhaft unheimlich ... da erhob sich wieder ein Wind und
sonderbar, wie sich die Menschen ansahen ... der Wind, er hatte sich gedreht. Rettung aus tiefster Not ...
nun mußte das Wasser fallen.
Wachen blieben überall auf den Deichen, aber die höchste Gefahr war vorüber ... in letzter Stunde gerettet.
Der nächste Morgen brachte Nachricht von "Elbe 1". Ein kleiner
holländischer Dampfer hatte den Vorgang beobachtet. Plötzlich waren
furchtbare Brecher über das Schiff gestürzt und hatten es umgeworfen
und unter Wasser gedrückt. Mit geschlossenen Schotten war das Schiff
gekentert. Ein schwerer, furchtbarer Seemannstod. -- Als wir um 11/2
Uhr auf dem Deich standen und Himmel und Wasser eine
sturmzerfetzte Masse war, da war das Unglück geschehen ... Die
ganze Besatzung war mit in die Tiefe gerissen.
Wir setzten auch unsere Flagge auf Halbmast, wie die ganze Stadt es
getan hatte. Waren es doch uns alle bekannte Menschen, die diesen
schweren Tod erlitten hatten. Das Allerschwerste war der Gedanke,
konnten sie noch gerettet werden. Verzweifelte Frauen, Mütter und
Kinder, starrten im Sturm und Unwetter aus und erflehten Nachricht, ob
nicht Rettungsversuche möglich wären. Flieger suchten lange
vergeblich das Wasser ab ... Der Sturm wütete noch immer und
Hebeversuche des Schiffes waren unmöglich. Schrecklich waren die
folgenden Tage und Nächte für die Angehörigen der Verunglückten.
Der Gedanke des langsamen Todes und ob noch eine Rettung möglich
gewesen wäre ... quälte und marterte und brachte dem Wahnsinn
nahe. Die Mannschaft sollte am Tage vorher abgelöst werden. Aber
das Boot mit der Ablösung konnte durch den Sturm nicht hinausfahren.
So wurde die eine Mannschaft auf wundersame Art und Weise gerettet und die anderen Männer, Väter und
Söhne, wurden in die Tiefe gerissen ...
Und dennoch ... "Seefahrt ist Not".
Abspann
Quelle
•
Bertha Kohfahl-Münker: Cuxhaven - Ein Heimatbuch
Dank an
•
Dr. Jens Kohfahl
•
Wilhelm Heidsiek-Verlag, Cuxhaven
•
Leuchtturm-Welt